Die albanisch-schweizerischen Filmproduktionen »De l’autre côté de la mer« und »Vergine giurata« an den Solothurner Filmtagen 2016 – demnächst im Kino.

Von Christian Hadorn, Chevroux – Mitglied Vorstand Gesellschaft Schweiz-Albanien

Wieder sind es die erhabenen albanischen Berge, ihre wolkenverhangenen Täler und ihre knorrigen Bäume, die die Bühne bilden für eine vergessene Welt und das archaische Gesetz der Ehre, das von alters her die albanischen Bergstämme bestimmt hat. Wieder sind es die Mannfrauen (burrnesha, oder auch »Jungfrauen«, virgjinesha, genannt) und die Blutrache, diese bildträchtigen und exotischen Phänomene des Kanun, des albanischen Gewohnheitsrechts, die uns entführen in eine ferne und doch so nahe Gegend, die sich bis heute den Atem der Vergangenheit in ihren Familiengeschichten bewahrt hat. Und wieder einmal sind es die Frauenfiguren, die sich aus den Fängen dieser mittelalterlichen und paternalistischen Enge befreien und uns mitnehmen in eine bessere und hoffnungsvolle Welt.

Alba Rohrwacher in »Vergine Giurata«

Alba Rohrwacher in »Vergine giurata«

In der hübschen Atmosphäre des historistischen Konzertsaals der Solothurner Filmtage sind es Mira (Kristina Ago) in Pierre Maillards »De l’autre côté de la mer« (CH, AL 2015) und Hana (Alba Rohrwacher) in Laura Bispuris »Vergine giurata« (CH, AL, RKS, I, D 2015), die diese Aufgabe übernehmen und uns teilhaben lassen an ihren Geschichten, die sie beide auf die andere Seite der Adria nach Italien in ihre Freiheit führen. In Hanas Fall freilich in einem gemächlichen Tempo, ohne die Reise über das Meer wirklich zu zeigen, denn ihr obliegt nichts weniger, als das ehrenvolle Andenken an ihren Stiefvater Jahre nach seinem Tod endlich zu begraben und die in den albanischen Bergen respektierte Identität als Mannfrau Mark gleichsam und wahrhaftig Stück für Stück abzustreifen. Ganz anders in Miras Fall: Hier explodiert die Geschichte förmlich, in einer verbotenen Jugendliebe und einer Serie von Gewehrkugeln, die sie dem Meer entgegentreibt. Sie stolpert, überlebt, flieht und setzt auf einem Flüchtlingsboot ihre Reise fort, einer ungewissen Zukunft entgegen. In beiden Fällen ist es aber das archaische Albanien, das Albanien der Berge und seines Ehrbegriffs, seiner kleinen uralten Kirchen und unasphaltierten Strassen und seiner kaum berührten Landschaft, das die Kulisse bildet für den Ausgangspunkt ihrer Reisen. Es sind gewaltige Reisen, über ein scheinbar gewaltiges Meer, gilt es doch eine Geschichte von Jahrhunderten hinter sich zu lassen.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass es gerade dieser Hauch der Vergangenheit und seiner hierzulande vergessenen archaischen Werte ist, der westliche Kulturschaffende fasziniert und ihnen auch eine gewisse Aufmerksamkeit garantiert. Man mag auch dagegen wettern und sagen: Hört auf mit diesem Exotismus, schaut euch das moderne und pulsierende Leben im Blloku, dem Ausgehviertel Tiranas an! Geht hin und seht doch, mit welchem Elan die sozialistische Regierung Rama und der charismatische junge Bürgermeister von Tirana Veliaj ihr Land ins 21. Jahrhundert führen! Doch noch existieren diese archaischen Elemente. Und ist es nicht gerade dieses Nebeneinander von Mittelalter und Moderne, das uns an Albanien so fasziniert?

Filmplakat

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Wie Pierre Maillard wiederholt betont, stehe es ihm denn auch fern, die heutige albanische Gesellschaft abzubilden. Tatsächlich erzählt Maillards Spielfilm trotz aller Zeitgenossenschaft, trotz der erzählerischen Nähe zum Kosovokrieg 1999 und zu aktuellen Flüchtlingsbewegungen auf dem Balkan, eine Geschichte, die fernab ist vom Tagesgeschehen. Sein »Road movie à pied« (Maillard) – der an so manche Fussgängerfilme Alain Tanners erinnert – ist denn auch die sehr persönliche Geschichte zweier vertriebener und getriebener Menschen, deren Schicksale sich in den albanischen Wäldern ineinander verfangen und in einer alten hohlen Platane Zuflucht finden. Geschickt erzählt Maillard in kontrastreichen und ruhigen Bildern also schlussendlich zwei Geschichten in einer, wenn er nicht nur Maras Flucht über das Meer Richtung Westen zeigt, sondern auch die Reise des französischen Fotografen Jean über das Meer nach Osten und zurück.

Der ehemalige Kriegsfotograf (eindringlich gespielt von Carlo Brandt) leidet an einem Verbrechen, das er vor Jahren im Kosovokrieg fotografierte und das ihn seither nicht mehr loslässt. Trost findet der vom Schicksal Vertriebene in seinem apulischen Atelier und seinen Bildern von alten Bäumen, die er rastlos immer wieder von Neuem mit seinem Fotografenauge einfängt. Eines Tages setzt er mit seiner Ausrüstung über und sucht ihn auch dort, seinen Baum, ganz in der Nähe seines Unglücksorts, in den albanischen Bergen.

Ganz im Sinne einer höheren Erzählebene zelebriert Maillard im ganzen Film die Macht des Bildes, zu Beginn in Form von eindringlichen Kriegsfotografien, mit denen er (von einer fulminanten Musik begleitet) in die Geschichte einsteigt, um dann mit bewegten Filmbildern von albanischen Landschaften und ihren Ausschnitten uns mit ebenso beeindruckenden Einblicken zu versorgen, die häufig symbolischen Charakter haben (Kamera: Aldo Mugnier). Da sind majestätische alte Bäume zu sehen, brennende Bäume, aber auch verlassene Industrieanlagen und trostlose Viadukte und eben dieses Flashback-Bild von »jenseits der Berge« (wie Jean sich ausdrückt), das sich seit jenem Tag im Kosovo-Krieg besonders tief in das Gehirn des Fotografen eingegraben hat. Dies sind allesamt Jeans (und Maillards) Bilder, denn sie sind alle Ausdruck seines Erlebens als Künstler und Fotograf. In diesem Sinne überhöht die Geschichte von Jean diejenige von Mara, denn sie bildet nicht nur die eigentliche Rahmenhandlung, die Anfang und Ende bestimmt, sondern auch ein mächtiges Bilderuniversum, das Jeans (und Maillards) poetischen Blick auf Welt freilegt.

Kristina Ago und Carlo Brandt in »De l’autre côte de la mer«

Kristina Ago und Carlo Brandt in »De l’autre côte de la mer«

Nach seiner schicksalshaften ersten Begegnung mit Mara flüchtet Jean zusammen mit ihr vor ihren Verfolgern. Gepeinigt von Hunger und Durst und angetrieben von der Sorge um die von ihren Brüdern gejagte Mara durchmisst er mit ihr auf dem Weg zur rettenden Meeresküste menschenentleerte Landschaften und ihre Ruinen aus kommunistischer Zeit. Und ganz wie Paolo, der in Pasolinis »Teorema« von der Liebe geküsst nackt durch die Wüste wandelt, durchquert auch Jean eine verwüstete Landschaft, zurückgeworfen auf sich selbst und sich dank der Zuneigung zu dieser jungen Frau wiederentdeckend. Das ungleiche Paar durchquert das Terrain von alten Industriebrachen und einer aufgegebenen Goldmiene, umgeht dort ihre zahlreichen Durchbrüche, um schliesslich heil und unversehrt das adriatische Meer zu erreichen. Am Ende steht das Versprechen der Freiheit, nicht nur für die junge Mara, die durch ihre Gebete zu San Antonio magisch gestärkt immer noch die Kraft findet, den Widrigkeiten zu trotzen. Auch der alternde Jean findet durch die Zuneigung zu Mara endlich seine Erlösung und wieder zurück zu den Menschen.

Maillard, ein begeisterter Spaziergänger und Baumliebhaber, entdeckte und schätzte Albaniens Landschaften und seine Menschen schon vor den Dreharbeiten. Dies spürt man in seinem Film und zeigt sich am besten in den Leistungen der albanischen Schauspielerinnen und Schauspieler, die es ihm mit ihren bestmöglichen Leistungen danken. Neben der Strahlkraft der Hauptdarstellerin Kristina Ago, die in Maillards Film ihr Leinwanddebüt gibt, ist es vor allem die Präsenz von Tinka Kurti (Maras Grossmutter), der grossen alten Dame des albanischen Films, und vom finsteren Bruno Shllaku (der Boss), die beeindruckt. Und über allem schwebt die vorzügliche Filmmusik von Fatos Qerimaj: Sie ist sparsam eingesetzt, aber intensiv, und trägt diesen poetischen und zeitlosen Film an den richtigen Stellen.

Während der gut 60-jährige Maillard in seinem Film gleichsam aus dem Vollen schöpft, begnügt sich die junge aufstrebende Enddreissigerin Laura Bispuri mit einer äusserst sparsamen und kontrollierten Filmsprache. Fernab jeglicher italienischer Eloquenz zeichnet die Römerin in ihrem ersten Spielfilm (bis dahin drehte sie drei Kurzfilme) die innere Welt einer ambivalenten Figur zwischen Frau und Mann, die zuerst als Gefangene ihres Zwiespalts zu verstummen scheint, dann aber in der Wiederentdeckung ihres eigenen Körpers in kleinen Schritten wieder zu sich selbst findet. Anders als bei Maillard orientiert sich die Geschichte ausschliesslich an dieser Figur mit Namen Mark (sehr präzise gespielt von Alba Rohrwacher), die als Mädchen Hana hiess und seit ihrem Schwur vor dem Ältestenrat ihres albanischen Dorfes das Leben eines Mannes führt. Jahre nach dem Tod von Onkel und Tante, die sich nach dem Ableben der leiblichen Eltern als gestrenge, aber auch liebevolle Adoptiveltern um Hana kümmerten und sie aufzogen, sucht Mark mit einem Brief der verstorbenen Stiefmutter im Gepäck seine Adoptivschwester und Kusine Lila (Flonja Kodheli) in Norditalien auf, wo sie mit ihrem albanischen Mann und ihrer Tochter in einem einfachen Arbeitermilieu ihr Dasein fristet. Der Kontrast zu seiner modernen Kusine könnte nicht grösser sein, sie: gesprächig, betont weiblich und dem Leben zugewandt (sie singt häufig am Abend in einer Bar albanische Lieder), er: wortkarg, mit allen sozialen Attributen eines traditionellen albanischen Mannes versehen (mit Zigarette und Raki in der Hand). Und dennoch verbinden sie eine tiefe Vertrautheit und die gemeinsame Geschichte in den albanischen Bergen.

Filmplakat

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Lila flüchtete damals nach Italien, um ihrer arrangierten Hochzeit zu entgehen und den Mann ihrer Liebe zu heiraten. Hana blieb zurück, leistete den Schwur zur ewigen Keuschheit und führte nach dem Tod der Eltern als Mann und Familienvorstand den Haushalt weiter. Die Vorgeschichte der beiden Schwestern wird in Rückblenden erzählt, die quasi dokumentarischen Charakter haben und einen Einblick geben in das archaische Leben einer vom Kanun bestimmten Dorfgemeinschaft. Man sieht die Trauerfeier für den verstorbenen Vater, wie sich die wehklagenden Männer (!) um den Leichnam versammeln und singen (und die Frauen stumm hinter ihnen). Man sieht, wie eine Schwurjungfrau einem Berggeist gleich vorbeigeht, und hört die Erklärung des Stiefvaters, wie er zu Hana im nordalbanischen Dialekt sagt: »Ka kenë gru, asht ba burrneshë« (»War eine Frau, wurde zur Mannfrau«). Ebenso wird gezeigt, wie Hana ihren feierlichen Schwur zur ewigen Keuschheit vor dem männlichen Ältestenrat ablegt und ihr dann mit heiligem Ernst die langen Haare abgeschnitten werden (Bispuri konnte sich dabei auch an aktuellen filmischen Dokumenten zum Phänomen der Schwurjungfrau orientieren, hatte doch die albanische Schriftstellerin Elvira Dones, deren gleichnamiges Buch in Absprache mit Bispuri die Vorlage für das stark adaptierte Drehbuch bildete, einen Dokumentarfilm über die letzten Schwurjungfrauen Albaniens gedreht).

Die beobachtende, dokumentaristische Kamera setzt sich dann auch in der Jetztzeit fort, wenn sie Marks beobachtenden Blick zeigt, wie er die neue Welt der jungen Italienerinnen und ihren Alltag zu ergründen versucht. Sein Auge erfasst beispielsweise einmal eine Gruppe von hibbeligen, leicht bekleideten und stark geschminkten Teenies, die durch die nächtlichen Gassen stolpern, oder wiederholte Male die Synchronschwimmerinnen in ihrem Training, wie sie sich Abend für Abend dem Diktat weiblicher Perfektion beugen.

Das Hallenschwimmbad mit seinen fast nackten Körpern und seinem omnipräsenten Fluidum Wasser ist denn auch Hanas Ort der Erweckung. Hier übt Lilas Tochter (Emily Ferratello) mit anderen jugendlichen Synchronschwimmerinnen die Figuren ein. Anfangs noch mit ihren Männerschuhen völlig deplatziert auf einem Startblock stehend gewöhnt sich Hana bald an die neue Umgebung. Sie begleitet ihre Nichte regelmässig ins Training und findet im Bademeister (Lars Eidinger) ihr Gegenstück. In seiner nördlichen Erscheinung scheint er beinahe ebenso fremd zu sein wie Hana und auch wortlos ihr Problem zu erkennen, denn er verhilft ihr (in einer grotesken Weise), sich als sexuelles Wesen zu entdecken. Hanas Verwandlung und Befreiung ist danach unumkehrbar, sie löst zu Hause in ihrer neuen Wohnung ihre juckende Brustbinde, die ihr seit Jahren den Atem nimmt …

Wer nach knapp 90 Minuten eine Fortsetzung dieser Befreiungsgeschichte erwartet, wird allerdings enttäuscht, denn schon bald nach diesem Wendepunkt endet der Film. Auch die sorgfältigen statischen Einstellungen und die edle und reduzierte Farbskala von Weiss, Grau, Blau bis Grün, die das erkaltete Innenleben der Hauptfigur widerspiegelt, erfahren keine Dynamisierung mehr. Hier muss man denn auch den einzigen Kritikpunkt an diesem an sich so überzeugenden Film ansetzen. Es fehlen gut 20 Minuten, um dieser reduzierten Ästhetik auch das nötige Gewicht zu verleihen. Wie schön wäre es zu sehen, wie sich Hanas Bewegungen noch etwas lösten, sich ihre Schatten noch etwas lichteten …

Sicherlich hat Albanien als Filmland noch mehr zu bieten als eine archaische Kulisse und Geschichten von Armut und Unterdrückung, blickt das Land doch zurück auf eine reiche Kinotradition und, angesichts aufstrebender junger albanischer Filmschaffender, auch auf eine vielversprechende Zukunft. Mit dem aktuellen Albanian Cinema Project des staatlichen Filmarchivs, das mehr und mehr auch in Westeuropa wahrgenommen wird und mit der Lancierung von »Bota« (einem Spielfilm von Iris Elezi und Thomas Logoreci) für die vergangenen Oscarnominationen scheint nun Bewegung in den albanischen Film zu kommen. Die albanisch-schweizerischen Koproduktionen »Vergine giurata« und »De l’autre côté de la mer« sind ein gelungener Teil dieser Aufwärtsbewegung und lassen auf eine weitere Zusammenarbeit der beiden Filmländer hoffen.

 

»Vergine giurata«

Laura Bispuri; CH: Bord Cadre films, AL: Erafilm Productions, u.a., 2015.
Seit dem 1. Februar in der Romandie, ab dem 10. März in der Deutschschweiz.

 

 

»De l’autre côté de la mer«

Pierre Maillard; CH: CAB Productions, Zoofilms, u.a., 2015.
Ab dem 20. April in der Romandie, ab dem 21. April in der Deutschschweiz.

 

 

Ein Filmprogramm des Albanian Cinema Project und des Albanischen Filmarchivs wird
demnächst am Internationalen Dokumentarfilmfestival »Cinéma du réel« im Pariser Centre
Pompidou vom 18. bis zum 27. März dieses Jahres vorgestellt.